DAS VOLKSLIED - EIN SPIEGEL DER RUSSISCHEN SEELE
Autor: Heinz Hasenbein
Artikel entnommen aus dem Programmheft zum Fühlingskonzert der Essener Polizei 1993 unter dem Motto „Russische
Impression“ mit musizierenden Gästen aus Essens russischer Partnerstadt Nishnij Nowgorod.
Wenn man von russischer Volksmusik spricht, so steht dieses Wort stellvertretend für die Volksmusik der drei ostslavischen Völker Ukrainer, Russen und Weißrussen.
Dieses ist vertretbar, weil die gleichartigen Züge überwiegen.
Im vorrevolutionären Russland waren über 80 % der Bevölkerung Bauern. Selbst in den Städten war ein Großteil der Bevölkerung mit dem Bauernstand verbunden. Eine
bürgerliche Kultur, wie sie im wesentlichen die westeuropäischen und im besonderen die deutschen Städte geprägt hatte, kannte das alte Russland nicht. Damit hängt das Fehlen bestimmter Ständelieder
zusammen. Handwerker-, Bergmanns-, Studenten-, Wander-, ja selbst Kinderlieder gibt es kaum oder gar nicht. Ähnlich auffallend ist die geringe Zahl der geistlichen Volkslieder. Dagegen weist das
russische Volkslied eine erstaunliche Fülle von Liedern auf, die mit dem bäuerlichen Brauchtum zusammenhängen.
Bei der Datierung solcher Lieder ist allerdings Vorsicht geboten, da genaue Quellenangaben bis weit ins 18. Jahrhundert hinein fehlen. Die mit dem bäuerlichen
Brauchtum verbundenen Lieder haben sich bis in unsere Zeit erhalten. Zu ihnen gehört die große Gruppe der Kalenderlieder, die mit dem Leben im Jahresablauf verbunden waren, wie z.B. Aussaat und Ernte.
Eine andere Gruppe sind die Lieder, die vom Lebensablauf erzählen: Hochzeit und Tanz, Abschiednehmen, Klage- und Totenlieder. Auch manche Arbeitslieder können dieser
Gruppe zugeschrieben werden.
Als dritte Gruppe kann man die Lieder sehen, die in epischer Breite vom Leben und Wirken sagenumwobener Gestalten singen. Die Volkslieder dieser drei Großgruppen
weisen im wesentlichen gleichartige musikalische Strukturen auf.
1. Der Moll-Charakter
Die meisten russischen Volkslieder bevorzugen die Mollweisen. Dadurch wird ihr Klangcharakter schwermütig und getragen. Selbst die in Dur gehaltenen Weisen
zeigen ein ähnliches Klangbild. Beliebt ist auch der Wechsel von Moll nach Dur mitten im Lied. Der hierdurch erzielte reizvolle Kontrast vermeidet die Gefahr der Eintönigkeit. Ein brauchbares Beispiel
hierfür ist das Lied „Wenn die Balalaika voll Sehnsucht klingt“. Etliche ältere Lieder begnügen sich mit dem Fünftonraum. Diese Form der Pentatonik finden wir auch bei sehr alten westeuropäischen
Gesängen, aber auch beim Kinderlied. Der schwermütige Gesang der Wolgaschiffer „Eh uchnjem“ (Ziehet kräftig) mag hierfür ein Beispiel sein. Die Melodie bezieht sich dabei nicht auf den Grundton,
sondern sie dreht sich um die kleine Terz (dritter Ton vom Grundton aus) wie um einen Angelpunkt, und sie endet schließlich auch darauf.
2. Der Vorsänger
Lieder mit einer besonders ausgefallenen Melodie, die einen großen Tonumfang und große Tonsprünge aufweisen, bedürfen eines Vorsängers. Hierzu zählen auch
einfachere Liedweisen, die aber extrem hoch oder tief gelagert sind. Die Gemeinde begleitet den Sänger durch Summen, Wiederholen des Refrains oder durch einfache Rufe (wie es ähnlich bei unseren „Schnada-Hüpfern“
mit „Holadihi“ ist).
Für dieses letzte Liedgenre ist die „Kosakenhochzeit“ ein gutes Beispiel. Ein Vorsänger erzählt von der Hochzeit, von den Kleidern der Frauen, vom Tanzen und Trinken. Die Umstehenden feuern ihn durch
Singen und Stampfen an. Ihr „Kolja, Kolja“ fordert vom Vorsänger immer neue Strophen in wilderem Tempo.
Anderer Art sind die beiden folgenden Beispiele, wo der Vorsänger zwar nur eine kleine Weise singt, dabei wird aber eine sehr hohe oder tiefe Stimmlage verlangt, wie sie nur wenigen gegeben ist. „Das
einsame Glöckchen“ und „Stenka Rasin“ sind Volksweisen, die nicht nur in Russland, sondern auch in der westlichen Welt sehr bekannt sind. Vielleicht spiegelt sich in ihnen im besonderen etwas von der
russischen Seele wider.
Die Glockenspiele der orthodoxen Kirchen begleiteten den einfachen Muschik (Bauer) wie den Bojaren (Adeliger) durch den Jahres-, aber auch durch den Lebenslauf. Das kleine achttaktige Lied vom
einsamen Glöckchen besticht durch seine einfache aber ausgewogene Melodie. Es bedarf einer sehr hohen, weichen und feinen Tenorstimme, um diese Weise zu gestalten; etwa so, wie es uns in Westeuropa
durch den unvergleichlichen Donkosakenchor interpretiert wurde. Alle übrigen Sänger bilden für die Solistimme durch ihr Summen einen fein gewobenen, aber dichten Klangteppich.
„Stenka Rasin“ ist die Geschichte eines Kosakenhetmans, die von einem „schwarzen Bass“ vorgetragen wird. Die übrigen Chorsänger lauschen und singen nur den
Schlussteil einer jeden Strophe als Wiederholung.
3. Der Tempowechsel
Ein besonderes Merkmal vieler russischer Volkslieder ist das wechselnde Tempo zwischen langsamen und schnellen Passagen sowie die beständige allmähliche
Beschleunigung. Eines der bekanntesten Lieder ist die Weise von „Kalinka“, die hierfür ein treffendes Beispiel ist. Dieses Tanzlied beginnt sehr langsam. Durch eine dreifache Wiederholung des Refrains
wird das Tempo immer mehr gesteigert. Sofort danach bricht das hohe Zeitmaß abrupt und weicht für wenige Takte dem langsamen „Podsas snoju“. Mit dem Ruf „Aijuli" kippt das Tempo wieder nach schnell, um
danach noch einmal zu verlangsamen. Wie bei einer ABA-Form folgt dann die Wiederholung des Eingangsteils mit der gleichen Temposteigerung bis zum furiosen Abschluss. Zu diesen tänzerischen Liedern
wurde geklatscht und gestampft. Mit steigendem Tempo sprang man auf und tanzte bis zum rasenden Wirbel.
4. Die Bedeutung der Quinte
Unter der Quinte versteht man in der Musik den Abstand von fünf Tönen. Es kann dies einfach nur der fünfte Ton in einer Tonleiter vom Grundton aus sein, er kann
aber auch der Grundton des Dominantakkordes sein, der zwangsläufig wieder zur Grundtonart zurückführt. Der bedeutende russische Komponist Glinka nannte die Quinte die „Seele der russischen Musik“.
In dem Lied „Jascha spielt auf“ geht die Melodie sogleich vom Grundton auf die Quinte und wechselt um - wie in einem Rezitativ (Sprechgesang) zwischen beiden hin und her. Dabei steht der Text und nicht
die Melodie im Vordergrund. So kann man wegen der Pendelmelodie nicht so ohne weiteres eine Tonart fixieren, ebenfalls ist die Frage nach Dur oder Moll zunächst völlig offen. Erst die durch den
Arrangeur eingerichtete Mehrstimmigkeit zwingt uns zu einer Festlegung; denn für die westeuropäische Musikkultur ist das Phänomen der Atonalität (Nichtbindung an eine Tonart) wohl in der klassischen
Moderne, nicht aber in der Volksmusik bekannt.
Ein ähnliches Symptom zeigt auch der Beginn des Tanzliedes „Kalinka“. Es beginnt mit der Oberquinte und bleibt während des gesamten Refrains auf dem damit verbundenen Dominantakkord. Erst am Schluss der
Phase wird der Grundton erreicht. Der gesamte Tonraum des Refrains besteht nur aus fünf Tönen und zwar abwärts von d' - g. Im Mitteltakt wechselt das Lied von Moll in die parallele Durtonart und kehrt
danach, wie in der da-capo-Form (ABA), zum Eingangsteil zurück.
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